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Da ich momentan aus gewichtigen und schönen Gründen etwas mein geliebtes Foodblog vernachlässigen muss, serviere ich euch mal wieder eine – für das Blog teils ergänzte – Rezension, zu einem Kochbuch die ich in diesem Jahr für den Printbereich verfasst habe. Es geht um die jüdische Küche, aber vor allem um Erinnerungen. Sehe ich die derzeitige Situation in unserem Land, die brennenden Flüchtlingsheime, das verlorene Vertrauen in staatliche Institutionen durch den tiefbraunen Filz der dort haltlos wuchert, die Gier, den Hass auf andere Menschen, dann wird mir das Herz eng. Wie kann man schon vergessen haben, was genau dieses Verhalten vor gerade einem Menschenleben verursacht hat? Der Mensch ist des Menschen Wolf. Irgendwann sollten wir doch endlich mal dazu lernen…
Ruths Kochbuch: Erinnerungen & Rezepte
Ruths Kochbuch* von Ruth Melcer und Ellen Presser lädt nicht nur dazu ein, neugierig die Nase in die Welt der aschkenasischen (osteuropäisch-jüdischen) Küche zu stecken und traditionelle Rezepte zu erforschen – es ist so viel mehr: Nicht nur ein simples Kochbuch, sondern vor allem ein Erinnerungsbuch. Wir alle wissen ja, wie sehr Essen mit Emotionen und Erinnerungen verknüpft sein kann. Ein Krümelchen Kuchen, ein bestimmter Duft, der uns in die Nase steigt, und schon sind wir geistig in einem anderen Jahrzehnt und sitzen vielleicht neben Menschen, die längst nicht mehr körperlich bei uns sind.
Ruth schrieb dieses Buch zusammen mit Ellen Presser eigentlich als Familiengeschenk zur Bar Mitzwah ihrer Enkel, um etwas Greifbares zu schaffen, denn zeitgleich mit dem Gedenken an ihre Familie ist es ein Buch, das den Leser/innen viel über die jüdische Kultur und deren (Essens-)Bräuche beibringt. Damals und auch noch heute aktuell.
Ruth – die selbst als berufstätige junge Mutter im München der 1960er zunächst eigentlich wenig Begeisterung zum Kochen ausbrachte – beginnt ihre Erzählung mit ihren kochverliebten polnischen Ahninnen und mit ihrer eigenen Geburt. Das erste, heißgeliebte Enkelkind, das von Eltern, Tanten, und Großeltern in einer gutsituierten jüdischen Familie verwöhnt wird und später in der harten Realität des Konzentrationslagers Auschwitz/Birkenau landet – und überlebt. Wie durch ein Wunder finden die traumatisierten Überlebenden der Familie nach dem Krieg zunächst im polnischen Dorf wieder zueinander, wandern nach einem Pogrom 1946 aber nach Deutschland aus.
Die Familiengeschichten und Berichte sind mit den wenigen, sehr persönlichen noch erhaltenen Fotografien der Familie illustriert – beispielsweise mit dem etwas verschwommenen Foto mit dem blondlockigen, lachendem Kindergesicht, Ruths kleinem Bruder Mirek, der mit sechs Jahren im Konzentrationslager der Mutter entrissen und zusammen mit anderen Kindern ermordet wurde. Authentische Schwarzweißfotografien ergänzen die Zeitberichte. Optisch ist das Kochbuch schön aufgemacht, der Stil des Covers setzt sich konsequent im Innern fort, ist allerdings fast etwas überladen. Schade ist, dass den Fotografien der Gerichte wenig bis kaum Raum geschenkt wird. Oft sind die Speisen nur relativ klein oder stark optisch verfremdet abgebildet.
Rezepte aus der aschkenasischen (jüdisch-osteuropäischen) Küche
Nicht alle Rezepte und Zutaten sagen einem vielleicht auch zu… (Das Rezept im Buch wird im Leben nicht gegen die Hamantaschen einer lieben Freundin von mir ankommen. Oft erinnern mich die Zutatenlisten auch an Familienrezepte bei uns, geboren aus Dingen, die es damals einfach gab und die normal waren. Zum Beispiel Margarine im Kuchen oder Vanillinzucker. Zutaten, die ich aus meiner Perspektive des relativen Luxus von heute meist lieber durch Butter und echte Vanille ersetze. Aber auch bei uns existiert „DAS“ eine Familienkuchenrezept, das irgendwie nur echt mit nem Würfel Margarine ist. ;))
Aber Ruth hat ja eben auch nicht den Anspruch ein universelles jüdisches Kochbuch zu schreiben, es ist ihr persönliches Familienkochbuch. Ein Sud aus Überlieferungen, Erfahrungen und persönlichen Vorlieben, gewürzt mit ihren Gedanken und Geschichten.
Serviert wird eine bodenständige und nicht zu verzierte polnische Küche mit vielen Fleisch- und Krautgerichten, ein Kapitel widmet sich mit seinen Rezepten auch ausschließlich dem Pessachfest. Kasche (Buchweizengrütze), Latkes (Kartoffelpuffer), Blini (Eierkuchen), Sauerkraut, Borschtsch, Gefilte Fisch, Krupnik (Graupensuppe), Kreplach (Teigtaschen für die Suppe), Matzeknödel, Tscholent (Eintopfgericht), Charosset (süßes Fruchtmus), Challah (Hefebrot), Hamantaschen (süßes Gebäck) und viele schöne Kuchenrezepte sind nur einige der reichhaltigen Rezepte, die einem hier neben den Geschichten und Anekdoten begegnen.
Nur ein steinernes Herz bleibt wohl von Ruths Familiengeschichte während und nach der Nazizeit gänzlich unberührt. Es ist mehr als eine bloße Rezeptsammlung, es ist ein Erinnerungsbuch. Und im Angesicht von ungezählten Kindern, die heutzutage wieder sterben, Menschen in Sammellagern, Bomben, verhungernden Menschen, brennenden Flüchtlingsheimen und Zäunen die geplant werden, um „uns“ von „denen“ zu unterscheiden, macht dieses Buch auch nochmal bewusst, wie gefährlich und beängstigend der Weg ist, auf den sich unser Land zum Teil wieder begeben hat.
Ein bittersüßes Buch. Zum Weinen, zum Freuen, zum Genießen, vor allem aber: zum Leben. Lechaim!
Ruths Kochbuch*
Gerstenberg, 2015
ISBN: 978-3836920957
160 Seiten, 19,95 Euro