Karottensalat? Was soll daran schon besonders sein? Aber es nicht nicht irgendeinen Salat, sondern einer aus dem arabischen Raum, dessen Rezept fast 800 Jahre alt ist. Quasi direkt aus dem Mittelalter hergebeamt. Und auch noch lecker! (Was bei mir gar nicht so einfach ist, da ich gekochte Möhren eigentlich inniglich verabscheue.) Aber: Das Ergebnis ist schlicht köstlich. Ein arabischer Möhrensalat mit einem cremigen Dressing aus Sesammus, Walnüssen, süßem Weißweinessig und Kräutern.
Cremiger Möhrensalat
Der Salat kann lauwarm oder kalt genossen werden, als Beilage zu einem Gericht oder Teil von vielen kleinen Gerichten – denkt in dem Zusammenhang an Mezze. Auch wenn das Gericht aus einem mittelalterlichen arabischen Kochbuch stammt, kann ich euch versichern, dass sich die Zubereitung nicht nur aus der Sicht experimenteller Archäologie heraus lohnt – der Karottensalat ist halt einfach gut und lecker. Tatsächlich war er Teil unseres diesjährigen Osterbrunches. Er passt auch wunderbar als Beilage zu gegrillten Köstlichkeiten. Der Salat lässt sich gut am Vortag schon vorbereiten und muss dann nur noch in ein hübsches Schälchen bugsiert und nach dem Kühlschwank wieder auf Raumtemperatur gebracht werden.
Ich persönlich hege seit meiner Kindheit eine heftige Abneigung gegen gekochte Karotten und habe mich spontan in diese Zubereitungsweise verliebt. Ich habe mich dazu entschieden die Möhren nicht komplett weich und matschig zu kochen – zwar gar, aber noch mit etwas Biss. Ummantelt von dem cremigen Dressing sind sie ein Traum, woran eins sehen kann, dass es oft an der Zubereitungsweise sowie der Konsistenz und nicht an der Zutat selbst liegt, wenn etwas nicht schmeckt. (Wer eine wissenschaftliche Abhandlung mit Überlegungen und Quellenangaben vermeiden will, kann ab dieser Stelle einfach Runterscrollen zum Rezept.)
Video zum Rezept: Historische Rezepte auf meinem Youtube-Kanal
Für Neugierige gibt es auch ein (englischsprachiges) Rezeptvideo zum syrischen Karottensalat auf Youtube: Delicious Dinars Ja, ich weiß, Ton und Bild sind noch nicht perfekt, aber ich beschäftige mich da gerade erst seit ein paar Monaten mit und bin sehr gespannt, wie sich das weiter entwickelt. Ich habe auch schon weiteres Filmmaterial meiner experimentellen Küchen-Archäologie in der Schublade, allein es fehlt neben dem Brotjob an Zeit und Kraft, das immer alles direkt so umzusetzen, wie ich gerne würde. Gerade die historischen Rezepte verlangen sehr viel Zeit und Recherche ab, dazu noch die technische Umsetzung, die ich komplett alleine mache. Also guckt mal rein und lasst mir vielleicht ein Like da oder abonniert mich, dann wisst ihr direkt Bescheid, wenn ein neues Video online geht. 😊
Veganer Möhrensalat aus dem Mittelalter – perfekt für die Lagerküche
Ich möchte das an dieser Stelle keineswegs zum Diskussionspunkt machen, aber Fleisch ist heute deutlich erschwinglicher als zu früheren Zeiten. Viele blenden gerne aus, dass viele traditionelle, alte Rezepte von Natur aus vegetarisch oder vegan waren. Ebenso verhält es sich mit diesem – durch die enthaltenen Nüsse und die Sesampaste – reichhaltigen, köstlichen Salat. Es ist somit aber auch ein wunderbares Rezept für die Lagerküche im Bereich Living History / Reenactment: Bis auf die zum Einsatz kommenden Möhren sind alles gut haltbare Zutaten aus der Vorratskammer. Und selbst die Wurzeln sind lange lagerbar. Ich habe den im Rezept vorkommenden Essig mit flüssigem Honig gesüßt. Charles Perry spricht in seiner Übersetzung lediglich von „sweetened wine vinegar“. Es können also auch andere Süßungsvarianten eingesetzt werden, wie zum Beispiel Dattelsirup. Selbst Zucker wäre – obwohl natürlich sehr hochpreisig – an dieser Stelle historisch korrekt. Wer moderner einhaken möchte, kann durch Agavendicksaft, Reissirup oder Ahornsirup substituieren.
Für Reenactment & Living History: Rezept aus dem mittelalterlichen Kochbuch Scents & Flavors (Al-Wusla)
Wie schon meine Version der mittelalterlichen Gewürzmischung Atraf al-tib ist dieses Rezept dem anonymen, syrischen Kochbuch „Scents and Flavours“* („Al-Wusla ila ‚l-Habeeb“) aus dem 13. Jahrhundert, in der englischen Übersetzung von Charles Perry, entnommen. Der unbekannte Autor listet zwei Rezepte für Karotten auf. Ich werde beide zitieren, weil ich mich zwar dafür entschieden habe, das zweite Rezept zuzubereiten, welches sich aber – wie bei mittelalterlichen Kochbüchern gerne üblich – inhaltlich zum Teil auf das erste Rezept bezieht.
„THE FIRST Cut the carrots crosswise like dinar coins and boil. Put minced parsley, mint, and rue; coriander seeds; and mixed spixes into sweetened vinegar and pour it on. Fry an onion in sesame oil, add and bring to the boil once.“
(Scents and Flavors (Als-Wusla), Übersetzung von Charles Perry, 8.119, Seite 127 ff)
Meine Übersetzung: „DIE ERSTE ART Schneide die Karotten quer, wie Dinarmünzen, und koche sie. Gib gehackte Petersilie, Minze und Weinraute; Coriandersaat und die Gewürzmischung [Atraf al-tib] in gesüßten Weinessig und gieße alles darüber. Brate eine Zwiebel in Sesamöl, gib sie hinzu und lasse alles einmal aufkochen.“
Die hier genannten „mixed spices“ beziehen sich wieder auf die Gewürzmischung Atraf al-tib, ein damals gebräuchlicher Mix. Im verlinkten Artikel samt Rezept findet ihr mehr dazu. Das cremige Walnussdressing scheint nicht ungewöhnlich gewesen zu sein, ein ähnlich konzipiertes Rezept habe ich auch schon im Zusammenhang mit (Mai-)Rübchen zubereitet. Das von mir im Nachfolgenden interpretierte Rezept ist dieses hier:
„THE SECOND KIND Take sesame paste dissolved with sweetened wine vinegar, some walnuts, mustard, minced parsley and mint, and pour onto carrots. The walnuts should be pounded smooth.“
(Scents and Flavors (Al-Wusla), Übersetzung von Charles Perry, 8.120, S. 128)
Meine Übersetzung: „DIE ZWEITE ART: Nimm in gesüßtem Weinessig aufgelöste Sesampaste, einige Walnüsse, Senfsaat, gehackte Petersilie und Minze und gebe diese über die Möhren. Die Walnüsse sollten fein zerstampft sein.“ Charles Perry vermerkt in einer Fußnote zu dem zweiten Möhrengericht Folgendes:
„The carrots are presumably cooked in the same way as in the previous recipe.“
(Scents and Flavors (Al-Wusla), Übersetzung von Charles Perry, Notes, Fußnote 74, S. 146)
Meine Übersetzung: „Die Karotten werden vermutlich in der gleichen Art gekocht, wie in dem vorhergehenden Rezept.“ Zu einem ähnlichen Ergebnis kam ich ebenfalls. Wer mit mittelalterlichen bzw. alten Kochbüchern arbeitet weiß, dass von den Verfasser*innen oft viel an Allgemeinwissen der damaligen Zeit vorausgesetzt wurde, bzw. dass oft vormals, in anderen Rezepten erwähnte, Kochschritte vorausgesetzt werden. Diese Vermutung klingt an dieser Stelle also sinnvoll.
Für mich stellten sich jetzt folgende Fragen:
- Ist mit dem Hinweis auf Dinare nur die runde Form gemeint oder auch die Scheibendicke?
- Beziehen sich auch die weiteren Zutaten auf das vorhergehende Rezept? (Zwiebeln, Weinraute, Atraf al-Tib, Koriander usw.)
- In wie viel Wasser wurden die Möhren gekocht?
- War es gesalzenes Wasser?
- Wurde das Kochwasser abgegossen?
–> Meiner Vermutung nach bezieht sich der Hinweis auf die ikonischen, im arabischen Früh- und Hochmittelalter zu den bekanntesten Münzen zählenden, Dinare aus Gold lediglich auf die runde Form der Möhren, die an Münzen erinnert, nicht auf die Dicke der Scheiben. In einem anderen Kochbuch, dem ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammdenden Kitâb al Tabîkh (The Book of Dishes) from Al Baghdadi (als „A Baghdad Cookery Book“* in der Übersetzung von Charles Perry erhältlich) gibt es ein Eintopfgericht namens „Dīnāriyya“. Verschiedene Zutaten (Gewürztes Hackfleisch, Karotten, gekochte Eier) werden in die Form von Dinaren gebracht (geformt oder geschnitten) und dem Eintopf hinzugefügt. Da weder Fleisch noch Eier so dünn geschnitten/geformt werden könnten ohne im Eintopfgericht ihre Form zu verlieren lässt mich dies vermuten, dass der Vergleich sich tatsächlich lediglich auf die runde Form bezieht. (Amüsante Nebeninfo: Über 700 Jahre später in Berlin, Deutschland: Die Großmutter meines Mannes versucht ihm als Kleinkind die verhassten gekochten Möhren als „Talerchen“ anzupreisen. Die Idee lebt also weiter… 😅)
–> Da die im ersten Rezept erwähnte Minze und Petersilie im zweiten Rezept ebenfalls einzeln aufgeführt sind, Weinraute, Koriander & Co. aber nicht, habe ich daraus den Schluss gezogen, dass diese Zutaten an dieser Stelle nicht automatisch mitgemeint sind.
–> Ich habe mich dazu entschieden die Möhren gerade eben mit Wasser bedeckt zu halten und nicht schwimmend zu kochen.
–> Im oben genannten Kitâb al Tabîkh (A Baghdad Cookbook) wird Gemüse in Salzwasser gekocht. Der Schreibstil des Autor ist hier in den Kochbeschreibungen allerdings teilweise sogar ausführlicher, listet bspw. bei den Eintopfrezepten immer wieder die gleichen Anleitungen auf und spricht dies sogar an einer Stelle direkt an. Ich treffe im Al-Wusla (Scents and Flavors) die Annahme, dass die Nutzung von Salz im Kochwasser vorausgesetzt wird. Es wird auch keine Alternative wie Murrī (eine salzige Würzsauce, ähnlich heutiger Sojasauce) als Alternative genannt.
–> Anscheinend wurde das Kochwasser nicht weggegossen – was allerdings Interpretationsspielraum ist, vielleicht war das Abgießen ebenfalls zu selbstverständlich, um es zu erwähnen. Da mein Dressing noch nachquoll und recht breiig war – was bei der Verwendung von Nüssen/Saaten durchaus normal ist – und ich kein Salz hinzugefügt hatte, bin ich einen Mittelweg gegangen: Ich habe die gekochten Karotten für den Salat zwar abgegossen, aber circa 1/3 des gesalzenen Kochwassers zurückbehalten. Nach dem Unterheben des Dressings ergab sich so die richtige Konsistenz der Salatsauce und auch die Salzigkeit war erfreulich stimmig.
Achtung: Meine Möhren habe ich relativ kurz gegart, da sie danach nicht blanchiert wurden, zogen sie noch etwas nach und wurden softer. Sie sind aber nicht komplett zu einer weichen, schwammigen Masse gekocht, sondern haben noch etwas Biss – was sie für mich erst essbar macht. Alternativ zur weißen Senfsaat, kann auch schwarzer Senf verwendet werden, dieser besitzt dann etwas mehr Schärfe. Aber nun ab zum Rezept, endlich!
Syrischer Möhrensalat nach einem Rezept aus dem 13. Jahrhundert
500 g Karotten (ungeputzt)
35 g Tahin* (Sesampaste)
40 g Weißweinessig
30 g Honig (flüssig)
50 g Walnusskerne*
6 g Petersilie (großblättrig, ohne Stängel, nur Blätter)
6 g Minze (ohne Stängel, nur Blätter)
3 g (= ca. 3/4 TL) Senfsaat (weiß)
Zubereitung
- Karotten putzen und schälen, in 3-5 mm dicken Scheiben schneiden, wie Taler oder Dinare.
- In einem mittleren Topf Salzwasser zum Kochen bringen, die Möhrenschreiben hineingeben, sie sollten gerade eben bedeckt sein. Deckel aufsetzen und bei mittlerer Hitze für 7 Minuten köcheln lassen.
- Den Topf vom Herd nehmen und die Möhren zum Teil abgießen. Achtung: Circa 1/3 des salzigen Kochwassers im Topf zurückbehalten.
- Gekochte Karottenscheiben und Kochwasser zusammen in eine Schale geben.
- Die Walnüssen und die Senfsaat nacheinander im Mörser stampfen. Die Walnüsse sollten hierbei ganz fein zerstampft sein, die Senfsaat kann etwas gröber gemörsert sein.
- Die gewaschenen, trocken getupften Kräuter fein hacken.
- In einem Schälchen den Weißweinessig mit dem Honig verrühren. Tahin im Glas aufrühren und dann in der Weißweinmischung unter Rühren auflösen.
- Walnüsse, gemörsterte Senfaaat und die fein gehackte Minze und Petersilie unter die Salatsauce aus Weißweinessig heben und alles gründlich vermengen. Kurz stehen und quellen lassen. Die Konsistenz ist eher ein dicker, cremiger Brei.
- Das Salatdressing über die gekochten Möhren und den salzigen Sud geben und vorsichtig unterheben. Servieren.
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Literatur: Scents and Flavours: A Syrian Cookbook*, Perry, Charles (Übersetzer), New York University Press, New York 2020, ISBN: 978-1479800810
A Baghdad Cookery Book*, Perry, Charles (Übersetzer), Prospect Books, Croydon 2005, ISBN: 978-1903018422
Eine englischsprachige Version dieses Artikels findet ihr in meinem historischen Foodblog Theophanu’s Cauldron: Delicious Dinars.
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